Mensch: Das kopernikanische Prinzip - Folgerungen für unser Welt- und Menschenbild

Mensch: Das kopernikanische Prinzip - Folgerungen für unser Welt- und Menschenbild
Mensch: Das kopernikanische Prinzip - Folgerungen für unser Welt- und Menschenbild
 
Vor uns liegt ein Text mit dem Titel »Unser Platz im Weltall«. Was erwarten wir von dem Text? Welchen Platz wird er uns zuschreiben? Auch wenn wir keine Einzelheiten kennen, wissen wir doch, dass die Antwort vor allem davon abhängt, wann er geschrieben wurde. Wie hätte ein Denker des Altertums den Aufbau des Universums und die Bedeutung des Menschen wohl eingeschätzt? Etwa so:
 
»Die Erde ist eine Scheibe, und wir Menschen wohnen ziemlich genau in deren Mitte. Mehr noch: Diese Erdscheibe ruht im Zentrum des gesamten Universums, in dem es somit ein Oben und Unten und vermutlich auch einen Rand gibt. Alle Himmelslichter kreisen um die Erde, Sonne und Fixsterne recht regelmäßig, einige — die Wandelsterne oder Planeten — eher unregelmäßig. Die Sterne sind leuchtende Punkte, vielleicht befestigt an einer Kristallkugel, vielleicht auch Löcher in einer sonst undurchsichtigen Kugelschale, die uns umgibt und vor dem Himmelsfeuer schützt. Die Himmelslichter sind natürlich für uns da: die Sonne, damit sie uns Licht und Wärme gibt, der Mond, damit wir auch bei Nacht etwas sehen, die Sterne, damit wir uns daran orientieren können. Wahrscheinlich ist der Mensch sogar der Grund für die Existenz des gesamten Universums. Die Stellungen der Planeten, richtig gedeutet, verkünden Charakter und Schicksal des Einzelnen, sogar ganzer Völker. Besondere Erscheinungen wie Kometen oder neue Sterne sind Warnzeichen, die göttliches Missfallen und nahendes Unheil anzeigen. Wenn wir brav sind, können wir die im Diesseits oder im Jenseits drohenden Strafen mildern. Es gibt eine Stufenleiter alles Geschaffenen, und der Mensch steht dabei auf einer der höchsten Stufen. Über dem Menschen gibt es nur noch Gott oder die Götter.«
 
Natürlich gibt es dabei noch mancherlei Varianten. Für die Chinesen ist China das »Reich der Mitte«; für die Ägypter bildet Ägypten den Mittelpunkt der Welt; und für die Griechen liegt der Nabel der Welt, der Omphalos, natürlich mitten in Griechenland, nämlich in Delphi.
 
Der Text, mit dem wir begonnen haben, stammt jedoch nicht aus der Antike, sondern ist — stark verändert — einem Buch aus dem Jahr 1971 von Patrick Moore über die Entwicklung des astronomischen Denkens entnommen. Das erste Kapitel steht zwar unter der Überschrift »Die überragende Bedeutung des Menschen« und erläutert das Weltbild der Antike. Die folgenden Kapitel schildern jedoch auch den Wandel unserer Anschauungen, und das letzte Kapitel heißt dann bezeichnenderweise »Die überragende Bedeutungslosigkeit des Menschen«.
 
Offenbar hat sich unser Weltbild seit der Antike erheblich geändert. Weltbild nennen wir das Wissen, das wir haben über die Welt, über den Menschen und über den Platz des Menschen in dieser Welt. Dieses Wissen wird meistens ergänzt durch Wertungen, also durch Urteile über Hoch und Niedrig, Gut und Schlecht, Nützlich und Schädlich. Deshalb beschränken sich auch Änderungen unseres Weltbildes nicht auf bloßen Erkenntnisfortschritt. Vielmehr erfolgt gelegentlich auch eine Neubewertung des Menschen und seiner Stellung in der Welt. Das markanteste Beispiel für eine solche Neubewertung ist verbunden mit dem Namen Kopernikus.
 
 Das kopernikanische Prinzip
 
Nach Nikolaus Kopernikus ist nicht die Erde der Mittelpunkt der Welt, sondern die Sonne. Das ist zunächst einmal eine astronomische Behauptung. Sie entspricht dem Übergang vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild. Dass dieser Übergang nicht nur astronomische Bedeutung hatte, ist oft genug betont worden. Nicht umsonst sprechen wir ja auch von einer kopernikanischen Revolution und meinen damit mehr als eine rein wissenschaftliche Neuerung. Nicht nur unser Weltbild, auch unser Menschen- und Gottesbild hat sich dadurch völlig verändert. So schreibt Goethe in seinen »Materialien zur Geschichte der Farbenlehre«: »Doch unter allen Entdeckungen und Überzeugungen möchte nichts eine größere Wirkung auf den menschlichen Geist hervorgebracht haben als die Lehre des Kopernikus. Kaum war die Welt als rund anerkannt und in sich selbst abgeschlossen, so sollte sie auf das ungeheure Vorrecht Verzicht tun, der Mittelpunkt des Weltalls zu sein. Vielleicht ist noch nie eine größere Forderung an die Menschheit geschehen; denn was ging nicht alles durch diese Anerkennung in Dunst und Rauch auf: ein zweites Paradies, eine Welt der Unschuld, Dichtkunst und Frömmigkeit, das Zeugnis der Sinne, die Überzeugung eines poetisch-religiösen Glaubens; kein Wunder, dass man dies alles nicht wollte fahren lassen, dass man sich auf alle Weise einer solchen Lehre entgegensetzte, die denjenigen, der sie annahm, zu einer bisher unbekannten, ja ungeahnten Denkfreiheit und Großheit der Gesinnung berechtigte und aufforderte.«
 
Während Goethe der Umstellung durch Kopernikus wenigstens noch einen positiven Aspekt abgewinnt, betont Friedrich Nietzsche ausschließlich die negative Seite, die Einsicht in die Bedeutungslosigkeit des Menschen: »Seit Kopernikus scheint der Mensch auf eine schiefe Ebene geraten — er rollt immer schneller nunmehr aus dem Mittelpunkt weg — wohin? ins Nichts? ins »durchbohrende Gefühl seines Nichts«?« (Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887) Hier klingt bereits an, dass es bei dem einen Schritt des Kopernikus nicht geblieben ist, sondern dass »seit Kopernikus« noch mehr solche Schritte erfolgt sind. Alle diese Schritte fallen unter ein Prinzip, das man kopernikanisch nennen könnte: Erde und Mensch haben keine Sonderstellung. Einige dieser »kopernikanischen Schritte« sind in Tabelle 1 zusammengestellt.
 
 Wer hat die kopernikanische Revolution angezettelt?
 
Selbst wenn man das heliozentrische Weltbild auf seine astronomische Tragweite beschränkt, bleibt die Frage, wann die kopernikanische Revolution eigentlich stattgefunden hat. Schon 2000 Jahre vor Kopernikus zweifeln einige Pythagoreer an der bevorzugten Stellung unserer Erde und rücken das Zentralfeuer in den Mittelpunkt. Aristarchos von Samos, ein Zeitgenosse des Mathematikers Archimedes, lässt die Erde bereits um die Sonne kreisen. Doch keiner glaubt ihm; sein Buch über dieses Thema geht verloren. Hätte nicht Archimedes seine Theorie erwähnt, wäre sie wohl gänzlich in Vergessenheit geraten.
 
Auch dem Kopernikus glaubt kaum jemand. Die katholische Kirche verbietet ihren Gläubigen, sein Buch zu lesen (erst 1835 wird es vom Index genommen); und auch Martin Luther wendet sich gegen das heliozentrische System. Giordano Bruno, Galileo Galilei und Johannes Kepler kämpfen und leiden dafür; gerade das zeigt, wie heftig die Ablehnung immer noch ist. Die Revolution lässt also auf sich warten. Erst im 18. Jahrhundert führt der Erfolg der Newton'schen Mechanik und Gravitationstheorie zur allgemeinen Anerkennung der Heliozentrik. Neben dieser theoretischen Stützung durch eine in vieler Hinsicht äußerst erfolgreiche Theorie stammen die ersten empirischen Argumente zugunsten einer Bahnbewegung der Erde sogar erst von 1725 (Aberration des Fixsternlichts nach James Bradley) und 1838 (Fixsternparallaxe nach Friedrich Wilhelm Bessel). Kann von einer wissenschaftlichen Revolution erst dann gesprochen werden, wenn die zugehörige Theorie allgemein anerkannt ist, dann hat die kopernikanische Revolution erst lange nach Kopernikus stattgefunden. Kopernikus hat dafür nicht viel mehr als den Namen geliefert. Diese ernüchternde Feststellung ist offenbar im Einklang mit dem nullten Hauptsatz der Wissenschaftsgeschichte: »Ein Satz oder Effekt, der den Namen einer Person trägt, stammt von einer anderen.« Wenn wir überhaupt versuchen wollen, diese andere Person ausfindig zu machen, dann war wohl Kepler der eigentliche Revolutionär: Seine astronomischen Werke haben die Heliozentrik langsam, aber dauerhaft durchgesetzt.
 
 Eine vierte Kränkung?
 
Sicher wäre es reizvoll, auch andere Stufen des kopernikanischen Prinzips daraufhin zu untersuchen, wer sie gebaut hat, wann das war und worin jede einzelne genau besteht. Das machen wir uns hier nicht zur Aufgabe. Eine andere interessante Frage richtet sich auf die Wirkung solcher Einsichten. Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, meint 1917, die Menschheit habe durch die Wissenschaften mehrere Kränkungen erfahren. Er nennt drei solcher Kränkungen: die kosmologische durch Kopernikus, die biologische durch Darwin und die psychologische durch ihn selbst. Durch die Psychoanalyse seien starke Gefühle der Menschheit verletzt; ihre Eigenliebe, ihr Narzissmus, habe dadurch eine weitere, sogar die empfindlichste Kränkung erfahren.
 
Das Eigenlob, das Freud sich selbst zollt, wenn er sich mit Kopernikus und Darwin in eine Reihe stellt, soll hier nicht kommentiert werden. Ausdrücklich angesprochen sei jedoch eine wichtige Folgerung aus Freuds Reihung: Den Leser führt sie ganz unauffällig zu der Überzeugung, wer sich gegen Freuds Theorie wehre, der tue das gar nicht aus sachlichen Gründen, sondern aus verletzter Eitelkeit. Ein Argument zugunsten der Psychoanalyse ist das nicht: Daraus, dass Kopernikus und Darwin zunächst abgelehnt wurden, obwohl sie Recht hatten, folgt natürlich nicht, dass auch Freud, wenn er abgelehnt wird, deshalb schon Recht haben müsse. Gibt es doch genügend Beispiele für neue Ideen, die sich nachträglich als falsch oder unbrauchbar erwiesen haben.
 
»Kränkung« ist bei Freud ein Fachausdruck, der mit »Krankmachen« zu tun hat. Doch sind wir auf diesen Ausdruck nicht angewiesen. So spricht Wilhelm Burkamp in seinem Buch »Wirklichkeit und Sinn« aus dem Jahr 1938 von »Demütigungen« des Menschen und von »kopernikanischen Wendungen«. Allerdings zählt er nicht drei, sondern vier solcher Demütigungen auf:
 
1) Das Ich erkennt sich selbst als ein Stück der Welt.
 
2) Die Erde — und mit ihr der Mensch — ist nicht der Mittelpunkt der Welt.
 
3) Die Menschheit ist in das Entwicklungssystem der Organismen eingegliedert.
 
4) Die menschliche Seele ist phylogenetisch entstanden; auch das Bewusstsein besitzt nicht die ihm zugeschriebene Unabhängigkeit von der physikalisch-biologischen Natur.
 
Die erste Demütigung kommt bei Freud gar nicht vor. Sie besteht in meiner Einsicht, dass auch ich ganz zur Welt gehöre und dass sich mein Erleben und Wirken nach denselben Gesetzen vollzieht, die auch sonst diese Welt beherrschen. Offenbar handelt es sich dabei um eine Einsicht, die — im Gegensatz zu den Einsichten von Kopernikus, Darwin oder Freud und lange vor aller Wissenschaft — schon jedes Kind im Laufe seiner Entwicklung gewinnt, gewinnen muss. Sie ist so elementar, dass wir ihr — anders als Burkamp — lieber die Nummer Null geben.
 
Offensichtlich entsprechen Burkamps zweite und dritte Demütigung der kosmologischen und der biologischen Kränkung nach Freud. Ob dagegen Burkamps vierte Demütigung nun auch deckungsgleich ist mit der dritten, nach Freud benannten und von ihm selbst beanspruchten Kränkung, ist schwerer auszumachen. Zwar ist auch bei Burkamp die Seele nicht Herr im eigenen Haus, aber doch aus anderen als Freuds tiefenpsychologischen, nämlich aus stammesgeschichtlichen oder phylogenetischen Gründen.
 
Dass wir nicht nur in Körperbau, Stoffwechsel und Neurophysiologie, sondern auch in unserem Verhalten aus dem Tierreich hervorgegangen und stammesgeschichtlich mit ihm eng verbunden sind, ist eine These, die vor allem die vergleichende Verhaltensforschung, insbesondere die Humanethologie, vielfach belegt hat. Wegweisend waren Charles Otis Whitman (ab 1898), Oskar Heinroth (ab 1910), Julian Huxley (ab 1914), Niko Tinbergen (ab 1933) und vor allem Konrad Lorenz (ab 1935). Es ist deshalb wohl angebracht, hier von einer ethologischen Kränkung zu sprechen.
 
Freilich könnte man diese Kränkung auch als Teil der Darwin'schen ansehen, ergibt sie sich doch schon aus einer konsequenten Anwendung der Evolutionstheorie. Ja, Darwin selbst weist sich durch sein Werk »Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei Menschen und Tieren« (1872) als früher Verhaltensforscher aus. Es bleibt uns überlassen, ob wir die Ethologie nur als Bestätigung und Bekräftigung der Darwin'schen oder als eigenständige Kränkung auffassen wollen. Im Folgenden werden wir sie — mit Burkamp — als eigenständig betrachten und bringen es damit immerhin auf vier Kränkungen.
 
Nun haben aber auch noch andere eine vierte Kränkung des Menschen ausgemacht. Kurioserweise handelt es sich dabei nicht immer um dieselbe Kränkung. Zählt man alle diese »vierten« Kränkungen zusammen, so kommt man leicht auf zehn Kränkungen. In Tabelle 2 sind sie zusammengestellt; im Folgenden werden sie kurz erläutert.
 
 Erkenntnisfähigkeit und Sozialverhalten
 
Die Evolutionsbiologie bleibt natürlich auch beim Verhalten nicht stehen. Schon früh richtet sich die Aufmerksamkeit der Ethologen auf die kognitiven Fähigkeiten von Tieren und Menschen, auf ein Gebiet also, das traditionell eher der Erkenntnistheorie und somit der Philosophie vorbehalten war. Dass sich einige Probleme der Erkenntnistheorie lösen lassen sollten, wenn man die biologischen, insbesondere die evolutionsbiologischen Grundlagen menschlichen Erkennens kennt und berücksichtigt, wird ebenfalls früh gesehen. So schreibt Charles Darwin schon 1838 in sein Notizbuch M: »Platon sagt im Phaidon, unsere »notwendigen Ideen« entstammten der Präexistenz der Seele, seien nicht von der Erfahrung abgeleitet, — lies Affen für Präexistenz.«
 
Der Gedanke einer evolutiven Passung unseres Erkenntnisapparates lag also seit Darwin in der Luft. Aber erst in unserem Jahrhundert hat Konrad Lorenz die Gesetze der Evolutionstheorie, die Befunde der von ihm mitbegründeten Verhaltensforschung und die Fragestellungen der Erkenntnistheorie zu einer Evolutionären Erkenntnistheorie verknüpft und dabei beide Seiten, die biologische wie die erkenntnistheoretische, angemessen berücksichtigt. Infolge der Kriegs- und Nachkriegswirren fanden seine Ideen jedoch wenig Resonanz, und erst seit etwa 1972 wird eine Evolutionäre Erkenntnistheorie auf breiterer Basis entwickelt und diskutiert.
 
Die Evolutionäre Erkenntnistheorie kann zum Beispiel die Frage beantworten, warum Anschaulichkeit kein Wahrheitskriterium für eine Theorie sein kann. Sie erklärt auch, warum wir Schwierigkeiten haben, unsere kognitive Nische, den Mesokosmos, zu überschreiten. In der Zeitung Die Zeit vom 6. Juni 1980 hat Dieter E. Zimmer die Evolutionäre Erkenntnistheorie eine weitere »kopernikanische Wende« genannt, in einem Sinne, der dem einer Kränkung oder Demütigung durchaus entspricht. Da es hier um unser Erkenntnisvermögen geht, könnte man von einer epistemologischen Kränkung sprechen. Freilich könnte man auch sie — wie die Verhaltensforschung — als eine konsequente Anwendung von Darwins Theorie ansehen und damit der biologischen Kränkung unterordnen.
 
Für die Soziobiologie gilt das erst recht. Diese junge Disziplin untersucht das Sozialverhalten von Tieren und Menschen. Sie nimmt die Theorie der natürlichen Auslese ernst und geht davon aus, dass genetisch gesteuertes Verhalten sich stammesgeschichtlich nur dann durchsetzen kann, wenn es der Generhaltung dient. Selbst dort, wo wir uns vermeintlich altruistisch und damit moralisch besonders hochwertig verhalten, sieht sie den Genegoismus am Werk. So folgt sie Edward Gibbons Grundsatz: »Man traue keinem erhabenen Motiv, wenn sich auch ein niedriges finden lässt!« Kein Wunder, dass die Soziobiologie vielen, etwa David Barash, als eine weitere Kränkung des Menschen erscheint, und Peter Koslowski meint sogar ausdrücklich, die soziobiologische sei »die vierte und letzte Kränkung«.
 
Es ist allerdings nicht einzusehen, warum ausgerechnet sie die letzte Kränkung sein soll. Kandidaten für Kränkungen sind ja sämtliche Eigenschaften, auf die wir irgendwie stolz sind. Im Laufe weiterer Forschung kann sich herausstellen, dass wir bestimmte vermeintliche Vorzüge entweder gar nicht oder aber nicht für uns allein haben. Tatsächlich ist von weiteren Kränkungen bereits die Rede.
 
 Weitere Kränkungen
 
So nagt auch das Computermodell des Geistes an unserem Selbstbild. Maschinenmodelle des Menschen hat es zwar schon früher gegeben; sie waren jedoch eher programmatisch. Neu und kränkend ist die Tatsache, dass Maschinen nun wirklich Leistungen erbringen, die man früher als typisch menschliche, als geistige Leistungen angesehen hat und einer Maschine eben unter gar keinen Umständen zugetraut hätte. Dass 1997 ein Computer beziehungsweise das Schachprogramm Deep Blue sogar dem Schachweltmeister Garri Kasparow ebenbürtig war, ist nur ein aktuelles Beispiel aus dieser Aufsteigergeschichte. Künstliche Intelligenz ist zwar immer noch mehr Programm als Realität; aber dieses Programm ist eben sehr erfolgreich. Folgerichtig sieht Sherry Turkle auch darin eine Bedrohung für die Idee des »Selbst« und verweist in diesem Zusammenhang — wieder einmal — auf Kopernikus, Darwin und Freud.
 
Gegen diese Kränkung gibt es Abwehrstrategien. Eine besteht darin, gerade jene Leistungen als besonders menschlich anzusehen, die dem Computer am schwersten zu vermitteln sind. Das eigentliche Humanum ist dann das, was sich nicht »entschlüsseln« lässt, was nicht in Worte und erst recht nicht in Formeln, Algorithmen und Programme gefasst werden kann. Eine solche Strategie verfolgen etwa Joseph Weizenbaum, Hubert und Stuart Dreyfus, John Searle sowie Roger Penrose. Doch macht diese Strategie unser Selbstbild und damit uns anfällig gegenüber den Fortschritten der Technik. Wenn Wert und Stolz des Menschen darin liegen oder darauf gründen, dass der Mensch etwas kann, was sonst niemand, was insbesondere keine Maschine kann, dann sind Wert und Stolz immer wieder aufs Neue gefährdet.
 
Die kopernikanische Revolution war verknüpft mit einer ungeheuren räumlichen Erweiterung unserer Vorstellung von der Welt. Weniger bewusst ist uns, dass diese Vorstellung um 1800 durch die Geologie auch eine vergleichbare zeitliche Erweiterung erfahren hat, etwa durch James Hutton um 1780 und Charles Lyell ab 1830. Wie tröstlich war doch die Vorstellung einer jungen Erde, die gleich nach der Schöpfung dem Menschen überlassen war! Wie abgründig ist dagegen eine Welt, die Milliarden Jahre alt ist und in der es Menschen allenfalls seit Jahrmillionen gibt! Der Paläontologe Stephen Jay Gould sieht in dieser »Entdeckung der Tiefenzeit« nicht nur eine Verbindung zwischen Kopernikus und Darwin, sondern einen eigenständigen Schritt, mit dem die Geologie die Bedeutung des Menschen erneut einschränkt. Weil es dabei vor allem um Datierungen geht, sprechen wir hier von der geochronologischen Kränkung.
 
Eine weitere, sehr aktuelle Kränkung ist von Bruno Fritsch diagnostiziert worden: die ökologische. Sie besteht in der Einsicht, dass die Menschen in zahlreiche komplizierte Ökosysteme und damit letztlich in die gesamte Biosphäre eingebunden sind, dass wir von dieser Biosphäre entscheidend abhängen und doch unfähig sind, diese Systeme zu durchschauen, sodass wir sie zwar beeinflussen, aber weit davon entfernt sind, sie zu beherrschen. Bei dieser Kränkung ist besonders schwer zu sagen, wer sie uns zugefügt hat: Sie erstreckt sich über einen längeren Zeitraum, und sie ist bei weitem noch nicht abgeschlossen. Außerdem sind hier Theorie und Praxis besonders eng verbunden: Welche ökologischen Fehler wir machen, bekommen wir manchmal hautnah zu spüren.
 
Kann man eine Kränkung prognostizieren? Es sieht so aus, als würden uns die Fortschritte der Neurobiologie die nächste Kränkung zufügen. Vor allem könnte sich die Willensfreiheit, auf die wir uns so viel einbilden, als Illusion erweisen. Durch das Computermodell des Geistes ist diese Kränkung ja bereits vorbereitet. Doch ist es ein Unterschied, ob man die Willensfreiheit theoretisch verneint oder ob man sie empirisch widerlegt — falls so etwas überhaupt möglich ist. Die neurobiologische ist dann bereits die zehnte Kränkung.
 
 Unterwegs zum Übermenschen?
 
Fortschritt ist leicht definierbar, etwa als Wandel zum Besseren, aber nur schwer feststellbar. Das liegt daran, dass wir uns nur schwer darauf einigen, was nun wirklich gut ist, und dass alles Gute auch Schlechtes mit sich bringt. Genau das konnten wir bei den großen wissenschaftlichen Fortschritten feststellen: Oft genug bedeuten sie Triumph und Kränkung zugleich. Und so geht es uns mit fast allen Erkenntnissen. Immer wieder fühlen wir uns in die Rolle des Zauberlehrlings gedrängt, dem sein Werkzeug entgleitet.
 
Unser Wissen hat natürlich nicht nur Einfluss auf unser Welt- und Menschenbild. Wer mehr weiß, kann auch mehr machen; und wer mehr kann, muss sich auch fragen (lassen), was er darf. Darf man alles erforschen? Soll man alles, was man weiß, auch öffentlich machen? Könnte das Wissen nicht missbraucht werden? Kann man alle Verantwortung auf jene abschieben, die das Wissen missbrauchen? Welche Gefahren bestehen, wenn wir das Erbgut des Menschen entschlüsseln? Wenn wir das menschliche Gehirn durchschauen? Dürfen wir unser Erbgut beeinflussen? Dürfen wir Gehirn und Psyche verändern? Können wir uns überhaupt auf erstrebenswerte Ziele einigen? Welches Gewicht haben die guten und schlechten Erfahrungen, die wir bereits gemacht haben, die bekannten Risiken, die unbekannten Gefahren?
 
Dass so viele Fragen offen bleiben, mag uns missfallen. Aber ist es nicht auch erfreulich, dass noch einiges zu tun ist? Der Stoff zum Nachdenken wird uns jedenfalls nicht so schnell ausgehen.
 
Prof. Dr. Dr. Gerhard Vollmer
 
 
Barash, David: Das Flüstern in uns. Menschliches Verhalten im Lichte der Soziologie. Aus dem Amerikanischen. Frankfurt am Main 1981.
 Burkamp, Wilhelm: Wirklichkeit und Sinn. 2 Bände. Berlin 1938.
 
Evolutionismus und Christentum. herausgegeben von Spaemann, Robert u. a. Weinheim 1986.
 Fritsch, Bruno: Menschen - Umwelt - Wissen. Stuttgart 41994.
 Gould, Stephen Jay: Die Entdeckung der Tiefenzeit. Zeitpfeil oder Zeitzyklus in der Geschichte unserer Erde. Aus dem Englischen. Taschenbuchausgabe München 1992.
 Moore, Patrick: Unser Platz im Weltall. Aus dem Englischen. Frankfurt am Main 1971.
 Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. Neudruck Stuttgart 1997.
 Riedl, Rupert: Biologie der Erkenntnis. Taschenbuchausgabe München 1988.
 Vollmer, Gerhard: Evolutionäre Erkenntnistheorie. Stuttgart 71998.

Universal-Lexikon. 2012.

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